Pissarro, Boulevard des Capucines, 1897,

Bildgegenstände:
Zentralperspektivischer Blick von erhöhtem Standort entlang eines breiten und belebten Boulevards mit breiten Trottoirs, Bäumen und Fassadenfluchten, die auf einen Punkt am Horizont, links der Bildmitte, zulaufen. Es ist Nacht, in der nassen Straße spiegeln sich Straßenlaternen, Kutschen mit Lampen, Passanten und beleuchtete Geschäfte. Der dunkelblau-trübe Himmel ist am Horizont vom Schein der Lichter erhellt, man erahnt den Dunst der feuchten Luft. Durch die flüchtige Malweise und den fleckigen Duktus sind Einzelheiten nur zu erahnen.
Malweise / Verfahren / Technik:
Es handelt sich um Primamalerei mit spontanem, fleckigem, kleinteiligem teils gerichtetem Duktus mit deckender, pastoser Farbe. Im Himmel dominiert flächiger Farbauftrag mit wenigen Arbeitsspuren. Auf eine Vorzeichnung wird verzichtet, der Malgrund bleibt stellenweise sichtbar. Die Farbe wird nass in nass aufgetupft, vermischt sich teilweise erst im Bild, bildet dabei oft ein plastisches Farbrelief. Auf die Stofflichkeitsdarstellung und das zeichnerische Detail wird dabei nur in Beziehung auf Licht / Dunst / Reflektion Rücksicht genommen. Der kleinteilige Auftrag verursacht ein lebendiges Flimmern im Gesamteindruck.
Farben:
Das Bild weist eine nuancenreiche Farbgebung mit warmen und kalten Farben auf, bunte Primärfarben dominieren, Gelb, Rot, die Farbe Blau ist meist getrübt. Die Farbe Grün fehlt fast ganz im Bild. Mischfarben wie Orange werden in reinere Bestandteile zerlegt und outriert. Schatten werden meist farbig dunkelblau dargestellt, Braun und Grautöne bilden die Straße / Trottoirs.
Die Farben Schwarz und Weiß werden in reiner Form gemieden, einige Farbtöne aber mit Schwarz und Weiß abgemischt, insgesamt ist das Bild eher dunkel und kühl mit kleinen in der unteren Hälfte eingestreuten warmtonigen Aufhellungen, die das Glitzern der Lichter betonen. Die Farbfunktion ist die Erscheinungsfarbe.
Farbkontraste:
Alle Farbkontraste sind deutlich im Bild zwischen dem dominierenden trüb-blauen Himmel und den kleinteiligen hell-orangen Lampen vorhanden. Die hellen und warmen Flächen sind über die untere Bildhälfte rhythmisch verstreut und stehen im Simultankontrast zu der trüb-grau-blauen Umgebung. Sie lassen das Bild dynamisch, lebendig, hektisch aber nicht mächtig oder kraftvoll wirken.
Formen:
Durch die spontane, flüchtige Malweise lösen sich die kleineren Formen in dem lockeren Duktus in einer fleckigen, teilweise leicht vertikal gerichteten Struktur auf. Nur die Fassadenfluchten und Straßenränder bilden mit Fluchtlinien eine klare und relativ strenge Zentralkomposition auf den Fluchtpunkt auf dem Horizont, etwa im Goldenen Schnitt auf dem Horizont links der Bildmitte. Sie lassen das Bild insgesamt trotz der flimmernden Lebendigkeit der Malweise und der schrägen Fluchtlinien ruhig, stabil und harmonisch wirken. Dunkle Baumkronen und helle Laternen schaffen rhythmische Auflockerungen. Der zufällige Bildausschnitt mit dem fehlenden unteren Rand lässt den Betrachter scheinbar schweben. Eine Vorzeichnung, Konstruktion oder Konturierung von Formen ist nicht erkennbar, der Gesamteindruck ist sehr malerisch, spontan, lebendig.
Naturalistische Gestaltungsmittel, Raumdarstellung:
Die Proportionen und Plastizität sind, soweit erkennbar, nicht falsch dargestellt. Die Stofflichkeitsdarstellung konzentriert sich über die Lichtstimmung und Erscheinungsfarbe ganz auf den Glanz der Lichter, des nassen Bodens und somit auf das Wetter, den atmosphärischen Eindruck.
Die Raumdarstellung kommt vorwiegend durch die Linearperspektive zustande, obwohl die Fluchtlinien der Häuser und Trottoirs nur nachlässig dargestellt sind. Durch die lockere Malweise setzt eine Luftperspektive schon im Nahbereich ein, sie stützt sich aber mehr auf das Flimmern der Luftbrechungen als auf die Darstellung von Trübungen und Dunst. Die Lampen werden nicht diffuser mit ihrer Entfernung.
Die Farbperspektive ist trotz Nachtansicht in den Bäumen und der Straße deutlich sichtbar.
Gegen die Regeln vom Größenvergleich wurde bei den Lampen ein wenig, gegen die von Überschneidung und Standort im Bild wurde nicht erkennbar verstoßen, so dass insgesamt ein deutlicher Raumeindruck entsteht.
Deutung / Interpretation:
Das Bilde wurde flüchtig und vor dem Motiv gemalt, der Maler wollte ganz im Sinne der Impressionisten den frischen Eindruck des Atmosphärischen, die spontane Schönheit eines flüchtigen Lichtereignisses einfangen, mit zufälligem Bildausschnitt, wie man das von unscharfen Fotos inzwischen kannte, nur aber in Farbe, denn bunte synthetische Farben waren inzwischen in Tuben preisgünstig erhältlich und transportabel geworden. „...Male alles auf einmal...“ drückt diese Beschränkung auf den Gesamteindruck, die Impression aus.
Das Glitzern und Spiegeln der Straße im Kunstlicht der modernen Welt, die neuen Automobile und Kutschen und die geschäftige Betriebsamkeit des Nachtlebens eines damals noch relativ neuartigen Boulevards nach einem Regen waren bis dahin nicht als schönes Motiv entdeckt worden. Boulevards galten als hässliche moderne Durchbrüche durch die historisch gewachsene Stadt, die von vielen Zeitgenossen nicht als schön empfunden wurden. Gerade „moderne“ Motive wie dieser alltäglich Blick konnten durch das Lichtereignis, wie es der regennasse, im Glanz des neuartigen Kunstlichts sich spiegelnde Boulevard bot, für Impressionisten darstellenswert werden. Der Betrachter wird durch den erhöhten Standort aber in kritischer überschauender Distanz gehalten. Der illusorischen Glanz dieser modernen Szene verleiht dem Motiv eine futuristische Idealisierung, durch die Distanziertheit, Flüchtigkeit und Oberflächlichkeit der Darstellung enthält es neben der naiven Freude am bunten Treiben auch einen kritisch mahnenden Vanitas-Gedanken zu diesem.
Pissarro mietete sich, speziell um dieses Motiv zu Malen, ein Zimmer im ersten Obergeschoss eines Hotels. Die Impressionisten malten durchweg für die in der industriellen Revolution neu entstandene und wohlhabende gehobene Bürgerschicht und die war uninteressiert an Bildern von politischen, sozialen, religiösen Problemen. Diese eher fortschrittsorientierte Schicht mied deshalb auch gerne die historistisch-dumpfe und schwermütige traditionell-feudale Monumentalmalerei mit pathetischem, mythologischem und symbolischem Inhalt ebenso wie den Realismus mit seiner Sozialkritik, sie favorisierten moderne, heiter-unbeschwerte, zeitgenössische „futuristische“ idealisierende Motive und Szenen aus ihrer Welt der „Sommerfrische“ und Freizeitgestaltung.
Dementsprechend beschäftigten die impressionistischen Maler technisch-formale Probleme wie die moderne Straßenbeleuchtung eines belebten Boulevards weitaus mehr als inhaltliche. Die genaue Wiedergabe des Sichtbaren wird in Frage gestellt, der optische Gesamteindruck, die Farbe, Lichtstimmung und Atmosphäre werden gesucht.

Michael Joachim 13.11.09