Bildgegenstände:
Zentralperspektivischer Blick von erhöhtem Standort entlang eines breiten
und belebten Boulevards mit breiten Trottoirs, Bäumen und Fassadenfluchten,
die auf einen Punkt am Horizont, links der Bildmitte, zulaufen. Es ist Nacht,
in der nassen Straße spiegeln sich Straßenlaternen, Kutschen mit
Lampen, Passanten und beleuchtete Geschäfte. Der dunkelblau-trübe
Himmel ist am Horizont vom Schein der Lichter erhellt, man erahnt den Dunst
der feuchten Luft. Durch die flüchtige Malweise und den fleckigen Duktus
sind Einzelheiten nur zu erahnen.
Malweise / Verfahren / Technik:
Es handelt sich um Primamalerei mit spontanem, fleckigem, kleinteiligem teils
gerichtetem Duktus mit deckender, pastoser Farbe. Im Himmel dominiert flächiger
Farbauftrag mit wenigen Arbeitsspuren. Auf eine Vorzeichnung wird verzichtet,
der Malgrund bleibt stellenweise sichtbar. Die Farbe wird nass in nass aufgetupft,
vermischt sich teilweise erst im Bild, bildet dabei oft ein plastisches Farbrelief.
Auf die Stofflichkeitsdarstellung und das zeichnerische Detail wird dabei nur
in Beziehung auf Licht / Dunst / Reflektion Rücksicht genommen. Der kleinteilige
Auftrag verursacht ein lebendiges Flimmern im Gesamteindruck.
Farben:
Das Bild weist eine nuancenreiche Farbgebung mit warmen und kalten Farben auf,
bunte Primärfarben dominieren, Gelb, Rot, die Farbe Blau ist meist getrübt.
Die Farbe Grün fehlt fast ganz im Bild. Mischfarben wie Orange werden in
reinere Bestandteile zerlegt und outriert. Schatten werden meist farbig dunkelblau
dargestellt, Braun und Grautöne bilden die Straße / Trottoirs.
Die Farben Schwarz und Weiß werden in reiner Form gemieden, einige Farbtöne
aber mit Schwarz und Weiß abgemischt, insgesamt ist das Bild eher dunkel
und kühl mit kleinen in der unteren Hälfte eingestreuten warmtonigen
Aufhellungen, die das Glitzern der Lichter betonen. Die Farbfunktion ist die
Erscheinungsfarbe.
Farbkontraste:
Alle Farbkontraste sind deutlich im Bild zwischen dem dominierenden trüb-blauen
Himmel und den kleinteiligen hell-orangen Lampen vorhanden. Die hellen und warmen
Flächen sind über die untere Bildhälfte rhythmisch verstreut
und stehen im Simultankontrast zu der trüb-grau-blauen Umgebung. Sie lassen
das Bild dynamisch, lebendig, hektisch aber nicht mächtig oder kraftvoll
wirken.
Formen:
Durch die spontane, flüchtige Malweise lösen sich die kleineren Formen
in dem lockeren Duktus in einer fleckigen, teilweise leicht vertikal gerichteten
Struktur auf. Nur die Fassadenfluchten und Straßenränder bilden mit
Fluchtlinien eine klare und relativ strenge Zentralkomposition auf den Fluchtpunkt
auf dem Horizont, etwa im Goldenen Schnitt auf dem Horizont links der Bildmitte.
Sie lassen das Bild insgesamt trotz der flimmernden Lebendigkeit der Malweise
und der schrägen Fluchtlinien ruhig, stabil und harmonisch wirken. Dunkle
Baumkronen und helle Laternen schaffen rhythmische Auflockerungen. Der zufällige
Bildausschnitt mit dem fehlenden unteren Rand lässt den Betrachter scheinbar
schweben. Eine Vorzeichnung, Konstruktion oder Konturierung von Formen ist nicht
erkennbar, der Gesamteindruck ist sehr malerisch, spontan, lebendig.
Naturalistische Gestaltungsmittel, Raumdarstellung:
Die Proportionen und Plastizität sind, soweit erkennbar, nicht falsch dargestellt.
Die Stofflichkeitsdarstellung konzentriert sich über die Lichtstimmung
und Erscheinungsfarbe ganz auf den Glanz der Lichter, des nassen Bodens und
somit auf das Wetter, den atmosphärischen Eindruck.
Die Raumdarstellung kommt vorwiegend durch die Linearperspektive zustande, obwohl
die Fluchtlinien der Häuser und Trottoirs nur nachlässig dargestellt
sind. Durch die lockere Malweise setzt eine Luftperspektive schon im Nahbereich
ein, sie stützt sich aber mehr auf das Flimmern der Luftbrechungen als
auf die Darstellung von Trübungen und Dunst. Die Lampen werden nicht diffuser
mit ihrer Entfernung.
Die Farbperspektive ist trotz Nachtansicht in den Bäumen und der Straße
deutlich sichtbar.
Gegen die Regeln vom Größenvergleich wurde bei den Lampen ein wenig,
gegen die von Überschneidung und Standort im Bild wurde nicht erkennbar
verstoßen, so dass insgesamt ein deutlicher Raumeindruck entsteht.
Deutung / Interpretation:
Das Bilde wurde flüchtig und vor dem Motiv gemalt, der Maler wollte ganz
im Sinne der Impressionisten den frischen Eindruck des Atmosphärischen,
die spontane Schönheit eines flüchtigen Lichtereignisses einfangen,
mit zufälligem Bildausschnitt, wie man das von unscharfen Fotos inzwischen
kannte, nur aber in Farbe, denn bunte synthetische Farben waren inzwischen in
Tuben preisgünstig erhältlich und transportabel geworden. „...Male
alles auf einmal...“ drückt diese Beschränkung auf den Gesamteindruck,
die Impression aus.
Das Glitzern und Spiegeln der Straße im Kunstlicht der modernen Welt,
die neuen Automobile und Kutschen und die geschäftige Betriebsamkeit des
Nachtlebens eines damals noch relativ neuartigen Boulevards nach einem Regen
waren bis dahin nicht als schönes Motiv entdeckt worden. Boulevards galten
als hässliche moderne Durchbrüche durch die historisch gewachsene
Stadt, die von vielen Zeitgenossen nicht als schön empfunden wurden. Gerade
„moderne“ Motive wie dieser alltäglich Blick konnten durch
das Lichtereignis, wie es der regennasse, im Glanz des neuartigen Kunstlichts
sich spiegelnde Boulevard bot, für Impressionisten darstellenswert werden.
Der Betrachter wird durch den erhöhten Standort aber in kritischer überschauender
Distanz gehalten. Der illusorischen Glanz dieser modernen Szene verleiht dem
Motiv eine futuristische Idealisierung, durch die Distanziertheit, Flüchtigkeit
und Oberflächlichkeit der Darstellung enthält es neben der naiven
Freude am bunten Treiben auch einen kritisch mahnenden Vanitas-Gedanken zu diesem.
Pissarro mietete sich, speziell um dieses Motiv zu Malen, ein Zimmer im ersten
Obergeschoss eines Hotels. Die Impressionisten malten durchweg für die
in der industriellen Revolution neu entstandene und wohlhabende gehobene Bürgerschicht
und die war uninteressiert an Bildern von politischen, sozialen, religiösen
Problemen. Diese eher fortschrittsorientierte Schicht mied deshalb auch gerne
die historistisch-dumpfe und schwermütige traditionell-feudale Monumentalmalerei
mit pathetischem, mythologischem und symbolischem Inhalt ebenso wie den Realismus
mit seiner Sozialkritik, sie favorisierten moderne, heiter-unbeschwerte, zeitgenössische
„futuristische“ idealisierende Motive und Szenen aus ihrer Welt
der „Sommerfrische“ und Freizeitgestaltung.
Dementsprechend beschäftigten die impressionistischen Maler technisch-formale
Probleme wie die moderne Straßenbeleuchtung eines belebten Boulevards
weitaus mehr als inhaltliche. Die genaue Wiedergabe des Sichtbaren wird in Frage
gestellt, der optische Gesamteindruck, die Farbe, Lichtstimmung und Atmosphäre
werden gesucht.
Michael Joachim 13.11.09